4.5.12

die entscheidung



Ruth konnte sich noch nicht entscheiden. Aber ich habe ja noch Zeit, dachte sie sich.
Der Weg würde noch ein paar Minuten dauern. Sie hatte also keine Eile. Mit Entscheidungen tat sich Ruth häufiger schwer. Während sie so ging, dachte sie: Es gibt ja meist für beide Seiten gute Argumente und die wollen erst gegeneinander abgewogen sein. Die Entscheidung soll ja gut überlegt, nicht blindlings erfolgen. Ich will ja keine Fehlentscheidung treffen! Einige Fehlentscheidungen kann man natürlich rückgängig machen, bei anderen bleibt einem wenigstens Schadensbegrenzung, doch bei manchen muss man die vollen Konsequenzen tragen. Diese Verantwortung sich selbst gegenüber machte es ihr nicht gerade einfacher.
Ruth hatte sich kürzlich mit ihrem Bekannten Mirko genau darüber unterhalten. Der war der Meinung, es sei wichtig in jedem Fall eine Entscheidung schnell zu treffen und dann dazu zu stehen. Denn wer selbst keine Entscheidung trifft, für den tuen es andere, dann aber eben zu ihrem Vorteil. Das sei besonders im Krieg zu beobachten. Auf eine gewisse Art hatte Ruth diese Auffassung imponiert. Doch ihr Ding war das eben nicht. Wenn sie jetzt nochmals darüber nachdachte, fand sie diese Auffassung auch gar nicht mehr so bewundernswert. Sie dachte sich: Erstens ist ja kein Krieg. Zweitens kann dieses spontane, unüberlegte Entscheiden unabsehbare Konsequenzen mit sich bringen. Außerdem erschien ihr dieses „unbedingt entscheiden wollen und müssen“ inzwischen auch als Folge des unzeitgemäßen „ein richtiger Mann sein wollen und müssen“. Also eine neurotische Zwangshandlung, der patriarchalischen Erziehung entspringend. Daher auch Mirkos Bezug auf den Krieg. Gut, sie kannte Mirkos Vater und Familie nicht so gut, dass sie sich da ein Urteil erlauben durfte. Und wenn andere für einen entschieden, bedeutet das ja nicht immer nur Nachteile, man ist dann auch in gewisser Weise vom Entscheidungszwang befreit. Überhaupt, oft genug kam es vor, dass profilierungssüchtige Männer über unwichtige Entscheidungen lange diskutierten und sogar stritten, während Ruth sich da lieber raus hielt, da ihr der allgemeine Frieden oft wichtiger war. Und das fand Ruth nun wirklich wichtig, dass man zum Wohle Aller die eigenen egoistischen Interessen auch mal zurückstellen konnte. Das war eine Eigenschaft an ihr, die sie selbst sehr schätzte und als Stärke, nicht als Schwäche sah! Wenn man selbst nicht entscheidet, entscheiden ja auch nicht immer die anderen, sondern eben mal der Zufall, oder die Bestimmung.
Offen für was Neues sein. Sich auch mal überraschen lassen können! Oder sich aber Rat beim Fachmann suchen. Man kann sich ja auch für etwas entscheiden, was von anderen schon für gut befunden wurde.
Ruth war einem Expertenrat nicht grundsätzlich abgeneigt. Es fing an zu tröpfeln, Ruth ging ein bisschen schneller. Nur noch ein paar Schritte, dann war sie an ihrem Ziel. Sie fragte: Was empfehlen sie? Die Verkäuferin sagte: Zitrone, sauer macht lustig! Ruth kaufte zwei Kugeln Zitroneneis und fragte sich dann auf dem Rückweg, warum sie nicht wie immer Vanille genommen hatte, das ihr eben doch am besten schmeckte.



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